No storytelling no more.

Wie kann ein guter Kompromiss aussehen? Was ist ein fauler Kompromiss? Wann ist der Kompromiss so faul, dass er buchstäblich bis zum Himmel stinkt? Und was tut man nicht alles, um die Fäule einige Zeit lang nicht zu bemerken?

Ich habe diese Geschichte schon häufig erzählt – warum also nicht hier posten, in einer meiner Muttersprachen. Vielleicht nutzt es dem ein oder der anderen zur Motivation. Was ist Motivation und was kann sie im Leben bewirken?

Das interessierte Kind (in uns)

Als Kind und Jugendlicher war ich immer daran interessiert, zu verstehen, wie ES funktioniert. ES war im Grunde alles – die ultimative Frage nach dem Leben, dem Universum und allem anderen (später verstand ich, dass 42 ein guter, aber wenig befriedigender Versuch einer Antwort war).* Ich hatte immer den Eindruck, Dinge erst verstanden zu haben, wenn ich sie selbst erklären konnte. Und ich wollte sehen, wie alles funktioniert. Von innen, dabei sein, selbst machen.

Ich studierte Molekularbiologie und später dann auch Philosophie. Das war total aufregend und ich genoss die Einblicke, die ich mir erarbeitete. Einblicke in die kleinsten konkreten Bestandteile lebendiger Materie und die größten Sinnfragen, die Menschen schon immer bemüht haben. Ich lernte Prinzipien kennen, die dafür verantwortlich sind, dass wir körperlich weitestgehend symmetrisch aufgebaut sind, und ich verstand, dass Gerechtigkeit nicht immer etwas mit einer Verteilungsgleichheit von Ressourcen zu tun hat.

Nach Abschluss beider Studiengänge begann ich nach einer kurzen Auszeit mit einer Promotion in der Philosophie zum Begriff der Realität. Zu diesem Zeitpunkt war ich allerdings schon zehn Jahre an der Uni gewesen, und mein Körper zeigte mir deutliche Ermüdungserscheinungen. Ich schlief einfach jedes Mal nach zehn Minuten in der Bibliothek ein. Nach einigen krisenhaften Monaten kam ich zu dem Entschluss, dass es hier für mich nicht weitergehen würde. Was nun? Ich hatte schließlich „nichts Richtiges“ gelernt, was sollte ich im Fall eines Abbruchs machen?

Go east

Irgendwie packte ich den Mut zusammen, exmatrikulierte mich (entgegen sehr freundlichen Warnungen) und landete über kurze Umwege in der Unternehmenskommunikation. Dieser große Schritt beinhaltete auch eine räumliche Veränderung. Ich verließ das fröhliche Rheinland und suchte im kargen Preußen mein Glück. Schnell begann ich, in einer Agentur für Kommunikation zu arbeiten und innerhalb weniger Jahre entwickelte ich mit einem Team Kampagnen, gab Unternehmen ein neues Antlitz und erarbeitete in Kunden-Workshops Markenkerne und Strategien für die Außenwahrnehmung.

Hatte ich in der Zeit an der Uni versucht zu verstehen, was Wahrnehmung ist, wie sie funktioniert und welche Grenzen ihr vielleicht auferlegt sind, so war ich nun damit beschäftigt, Wahrnehmung zu konzipieren, zu leiten und vor allem umzubiegen. Das ging einige Zeit gut, bevor mir langsam klar wurde, dass die Arbeit immer anstrengender wurde und ich mich immer bleierner fühlte.

Im Laufe der Zeit wurden körperliche Signale immer lauter, die mir zunächst kurios vorkamen, die ich aber irgendwann verstand: Saß ich am Schreibtisch, um an einem zuvor verkauften Projekt zu arbeiten, wurde ich immer unruhiger. Meine Beine wippten und ich musste ständig aufstehen und mich bewegen. Ich hatte irgendwann das Bild, dass fast die Gesamtheit der Zellen in meinem Körper von diesem Schreibtisch und den Aufgaben weg wollte. Jede Muskelfaser in mir wollte meinen Körper dazu bewegen, aufzustehen und wegzugehen. Weg von diesem Schreibtisch, weg von den Fragestellungen und Zielsetzungen, die mich nicht im Geringsten interessierten, und bei denen ich absolut keinen Sinn sah – weder für mich, noch für den Kunden.

Die Erinnerung an diese körperlichen Symptome sind noch sehr lebhaft, und ich bin froh, dass mir mein Körper ein zweites Mal mit allen möglichen Mitteln angezeigt hat, wo der Weg nicht mehr langgehen kann. Ich dachte damals an zahlreiche Biographien, von denen ich schon einmal gehört hatte – von Menschen, die erst richtig krank werden mussten, bevor sie einen neuen Weg in ihrem Leben einschlugen. Da wollte ich auf keinen Fall hin. Es erschien mir traurig, erst abwarten zu müssen, bis mein Körper krank oder kaputt ist, um erst dann eine anerkannte Begründung zu haben, meiner Motivation zu folgen und den Wert meines eigenen Lebens voll auszuschöpfen.

Und was machst du so?

Zufälligerweise traf ich jemanden, der mir den nächsten Schritt anbot. Auf meine Frage bei einer Party, „was machst du denn so“, sagte mir ein Bekannter, er würde mit Jugendlichen durch Europa fahren und ihnen die Kultur des Kontinents näherbringen. Ich war selbst erstaunt, als ich mich wortwörtlich selbst hörte: „Das will ich auch machen“ … Ich hatte noch nie mit Jugendlichen gearbeitet, wollte sicherlich nichts mit Tourismus zu tun haben und überhaupt!

Gleichwohl folgte ich meiner Intuition und ließ mich (ein wenig) ein. Nach einigen Bewerbungshürden ging es los, zunächst noch parallel zum Agenturbetrieb: Ich begann, amerikanische Jugendliche durch Europa zu begleiten und ihnen dabei den Kontinent, die Geschichte, seine Kunst und Architektur, unsere Denkweise und vieles mehr nahezubringen. Dabei konnte ich meinen Interessen freien Lauf lassen und mein Verständnis von Einsicht voll ausleben: Was motivierte die Menschen, sich auf die Französische Revolution einzulassen und war danach wirklich alles besser als zuvor? Sind Konzentrationslager eine Sache der Vergangenheit oder finden wir solche Strukturen auch heute noch in unserer aufgeklärten und modernen Welt? Welche Gestaltungselemente fügten die Römer in die griechische Baukunst ein, die uns noch heute Räume erleben lassen?

Ich konnte Diskussionen führen über Geschichte, über das, was wir wissen können und über das, was vielleicht eine schöne Hypothese ist. Ich konnte mich auf Fragen einlassen und meine Überzeugung weitergeben, dass oftmals nicht die Antwort das wesentliche Element des Verstehens ist, sondern eine akkurat formulierte Frage.

Auch in Berlin fing ich an, Menschen durch die Stadt zu führen und mich mit ihnen über Geschichte und auch aktuelle Themen zu unterhalten. Gibt es Parallelen zwischen dem Alten Fritz, seiner Eroberung Schlesiens und der aktuellen Situation auf der Krim? Ist das Verschwinden des Palastes der Republik in irgendeiner Weise zu vergleichen mit dem Verschwinden des alten Stadtschlosses 1950?

All diese Fragen schienen mir real zu sein. Realer und für mich interessanter als die Antworten, die ich Menschen durch Kampagnen in ihr Gehirn einpflanzen wollte. In der Unternehmenskommunikation dachte ich mir Geschichten aus, die das Verhalten von Menschen beeinflussen sollten. Bei meinen Führungen dachte ich mir Fragen aus, die Menschen mit den Begriffen der Wahrheit und der Erkenntnis spielen ließen. Und mein Körper sagte mir ganz klar, welche der beiden Tätigkeiten ihm besser tat.

Angel und Gäste vor der Berliner Dom
Ist das jetzt ein gutes Beispiel für Renaissance-Architektur oder nicht? Angel mit Zuhörerschaft vor dem Berliner Dom.

Selbstvertrauen

Also noch einmal umschwenken? Alles auf eine Karte setzen? Natürlich habe ich mir die Frage gestellt, ob ich es schaffe, mich zu ernähren. Bei all dem lustigen Geblubber von Selbstverwirklichung und Lebensenergie und Lust am Machen darf man eine Sache nicht aus den Augen verlieren: Man muss sich am nackten Leben halten. Es muss einfach am oberen Ende genügend reinkommen, damit am unteren Ende ausgeschieden werden kann – man verzeihe mir diese Plattheit, aber es muss meines Erachtens mit genau dieser Klarheit darauf verwiesen werden. Sitzt man nicht zufälligerweise auf einem Sack Geld, so muss die erste Selbstverwirklichungstat lauten, sich am Leben zu halten.

Auf eine Sache aber konnte ich mich verlassen. Mich selbst. In den vergangenen zehn Jahren erlebte ich immer wieder Situationen, in denen ich fast verzweifelt wäre. Wie soll dieses oder jenes Projekt weiterlaufen? Wie kann ich diesen Auftrag umsetzen? Wie soll um Himmelswillen dieser Zeitplan funktionieren? In allen diesen Situationen hatte ich erlebt, dass ich mich immer auf mich und meine Kompetenzen, meine Urteilskraft und meinen Willen verlassen konnte. Das wirst du schon schaffen. Du hast es bisher immer geschafft. Augen auf, Hirn an und dran bleiben!

Mit war bereits klar geworden, dass im Bereich der Kulturvermittlung Chancen steckten. Da ging was. Mit ein wenig Geschick wäre das kein Sprung ins komplett Ungewisse. Mit einem etwas kühlen Kopf könnte ich daraus etwas machen – ein Versuch wäre es wert. Heute bin ich froh, dass ich mich immer wieder dafür entschieden habe, auf meinen Körper zu hören und meinen Kopf und Verstand dabei nicht gänzlich auszuschalten. Dass ich darauf vertraut habe, immer meinen eigenen Weg zu suchen und erst einmal einige Schritte auszuprobieren.

Und besser noch: Ich hatte Blut geleckt. Die Erinnerung an meine alte Liebe für Einblicke, Verständnis und das Betrachten von Zusammenhängen … alles war wieder da. Ich fing an, neue Projekte zu entwickeln, teilweise künstlerischer Art, teilweise wissenschaftlich in der Herangehensweise. Bei meinen Reisen durch Europa sprach ich über Geschichte und Architektur, ich lief durch Berlin und sprach über Preußen und die Herausforderung, in einer Hipster-Stadt zu leben. Und ich hatte noch genügend Zeit, anderen Projekten nachzugehen. Heute arbeite ich an einem Film zum religiösen Glauben und stelle dabei die Frage, was eigentlich Glaubensgemeinschaften zusammenhält. Ich interviewe Menschen zu ihrem Glauben und gehe Fragen nach, die mir schon lange auf der Seele brennen. Weil es mir Freude macht. Weil es mich ausmacht. (Und falls sich jemand angesprochen fühlt: ich suche aktuell noch nach Interviewpartnern. Einfach mal reinschauen in das Projekt, mitmachen oder frech weiterleiten.)

Was zählt? Zufriedenheit am Morgen

Unterm Strich schaffe ich es heute, die Balance zu halten, zwischen einer Arbeit, die mich reizt, interessiert, mich bereichert, und mir deshalb keine Energie raubt, so dass ich mich zusätzlich ganz persönlichen Projekten widmen kann. Ist das Verwirklichung? Es fühlt sich zumindest saugut an!

Ich bin wieder näher am Content – oder an dem, was ich als solchen verstehe. Ich suche wieder nach Wahrheit und nach tatsächlichem Verständnis tatsächlicher Zusammenhänge, weg von einem – vielleicht nicht platten – aber doch aufgesetzten Storytelling. Ich erzähle meine eigene Story. Oder besser noch: Ich verfolge sie selbst.

Hätte ich mir diesen Weg ausgesucht? Nein. Hätte ich mir einen Job gesucht, der im Bereich Tourismus liegt? Nein. Fühle ich mich gut, bin ich nah an meinen Interessen und kann ich mit ruhigem Gewissen das vertreten, was ich mache und dabei morgens mit Freude aufwachen? Ja.

Done.
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* Vgl. Douglas Adams: Per Anhalter durch die Galaxis.
Dieser Beitrag ist gleichzeitig eine Teilnahme am Blog-Award der Ergo #DeinWeg.